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Soziale Schieflage: "Bundeskanzler Scholz gilt nicht als der Kanzler der unterprivilegierten Menschen"


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„Wie prekär die Lage ist, sieht man an den mehr als 1000 Tafeln, die Bedürftige mit Lebensmitteln versorgen“, sagt Hengsbach. Hier eine Tafel in Mülheim an der Ruhr.

„Wie prekär die Lage ist, sieht man an den mehr als 1000 Tafeln, die Bedürftige mit Lebensmitteln versorgen“, sagt Hengsbach. Hier eine Tafel in Mülheim an der Ruhr. © IMAGO/Funke Foto Services

Der Sozialethiker und Jesuit Friedhelm Hengsbach spricht mit Claus-Jürgen Göpfert über die Überlastung vieler Menschen in Deutschland, die soziale Schieflage und den Umgang mit AfD-Fans.

Herr Hengsbach, die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland geht immer weiter auseinander. Nach der jüngsten Studie der Böckler-Stiftung ist die Zahl der armen Menschen während der Corona-Pandemie um 840 000 gewachsen, auf 14,1 Millionen Menschen. Zugleich besitzt ein Prozent der Haushalte ein Drittel des privaten Vermögens in Deutschland.

Ja, die Ungleichheit der Einkommen ist seit der Jahrhundertwende schnell angestiegen. Aktuell wurde in Deutschland noch nie eine höhere Armutsquote gemessen, nämlich 16,1 Prozent. Menschen, die bereits vor der Corona-Krise an den Rändern des Arbeitsmarktes waren, wurden während der Corona-Zeit in Armut abgedrängt. Sie waren nur unzureichend durch solidarische Sicherungssysteme geschützt oder durch Tarifverträge abgesichert. Man hätte erwarten können, dass die Bundesregierung gemeinsam gegensteuert gegen diese Entwicklung. Aber das geschieht nicht. Schauen Sie sich das unwürdige Gezerre in der Ampel-Koalition um die Grundsicherung für Kinder an. Am Ende wird viel weniger Geld für die Grundsicherung ausgegeben, als es die Bundesfamilienministerin gefordert hatte. Es hat sich bei dieser Auseinandersetzung auch gezeigt: Bundeskanzler Scholz ist nicht der Bundeskanzler der Armen.

Sie vermissen eine soziale Politik der Bundesregierung?

Ja. Die große politische Maxime der Entscheidungsträger ist wirtschaftliches Wachstum. Diesem Ziel wird alles andere untergeordnet. Tatsächlich müssten wir uns von allen klimaschädlichen Faktoren des Wachstums endlich verabschieden, das sagen alle Klimaforscher. Was aber geschieht? Es wird mehr geflogen, mehr Auto gefahren als vor der Corona-Pandemie. Das Straßennetz soll großzügig ausgebaut werden. Damit wurden die Tore zum vergangenen Lebens- und Arbeitsstil wieder geöffnet. Es wird der Ruf laut: „Endlich wieder Normalität!“

Für Sie als Sozialethiker sind das die falschen Prioritäten?

Gewiss. Die politisch Verantwortlichen sollten sich intensiv für Kinder, Jugendliche in der Ausbildung, das Bildungssystem und die Familien engagieren. Viele Schulen verrotten. Die Krankenhäuser und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung sind zum Teil in einer verheerenden Situation. Schon der frühere Bundessozialminister Norbert Blüm von der CDU hatte sich in den markwirtschaftlichen Traum verheddert, als könne die Gesundheit als eine Ware wie jede andere gehandelt, verkauft und gekauft werden. Ich bin insgesamt sehr enttäuscht von der Ampel-Regierung. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Koalitionsvertrag und der zaghaften Praxis.

Zur Person

VIDEO: Olaf Scholz über die AfD
SPD

Friedhelm Hengsbach wurde am 15. Juli 1937 in Dortmund geboren. Der Ökonom, Jesuit und Sozialethiker wurde 1967 zum Priester geweiht. Von 1985 bis zur Emeritierung 2005 war er Professor für Christliche Sozialwissenschaft, Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt. 2018 war er Gründungsmitglied der Bürgerbewegung Finanzwende. jg

Was wäre zu tun, um gerade armen Familien zu helfen? Sie setzen sich seit Jahrzehnten als Vertreter der katholischen Soziallehre für arme Menschen ein.

Ein wichtiger Punkt ist, dass in der Gesellschaft von oben nach unten umverteilt werden müsste. So muss zum Beispiel der Mindestlohn viel stärker angehoben werden als jetzt vorgesehen. Überhaupt müssen gerade die niedrigen Lohngruppen einen stärkeren Zuwachs erleben. Wie prekär die soziale Schieflage in Deutschland mittlerweile ist, wird an den mehr als 1000 Tafeln erkennbar, die arme deutsche Menschen, aber auch viele Migranten mit Lebensmitteln versorgen. 2020 wurde der Höchststand von Arbeitsunfähigkeit erreicht, vor allem bei stark belasteten Frauen. Die Gründe sind Zeit- und Leistungsdruck am Arbeitsplatz, unregelmäßige Arbeitszeiten. Die Hälfte der Arbeitnehmer geht auch dann zur Arbeit, wenn sie sich „richtig krank“ fühlt. Das Ausbrennen verbreitet sich wie eine Pandemie.

Wie nehmen Sie das Befinden der Menschen wahr, mit denen Sie sprechen?

Das Zeitmuster von Frauen hat sich in den letzten zehn Jahren verändert, jenes der Männer blieb stabil. Frauen kürzen die Hausarbeit und ihre soziale Tätigkeit, um mehr Erwerbsarbeit zu leisten. Frauen und Männer meinen, die Zeit, die sie ihren Kindern widmen, reiche fast nicht aus. Der gesellschaftliche Druck auf die Frauen, ihre Erwerbsarbeit zu intensivieren, führt zu der verstärkten Sorge der Frauen, dass sie der Haus- und Familienarbeit nicht mehr gerecht werden.

Zugleich verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in die Politik der Bundes-regierung.

Die ganze Sache geht viel tiefer. Ich beobachte das ganz klar: Es gibt einen Vertrauensbruch zwischen vielen Wählerinnen und Wählern und den etablierten Parteien. Das tägliche Bild, das die Handelnden in der Politik abgeben, ist verheerend. Denken Sie an all die Verhandlungen auf Schloss Meseberg, wo dann die Kompromisse nach wenigen Tagen wieder zerfallen. Denken Sie an die Art und Weise, in der die Parteien in der Koalition miteinander umgehen. Das alles zerrüttet das Vertrauen der Menschen. Und es trägt zum Erfolg der rechtsextremen AfD bei.

In den östlichen Bundesländern bekennt sich ein Drittel der Bevölkerung zur AfD. Darunter sind viele arme Menschen, die nicht am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben. Wie können wir diese Menschen wieder in den demokratischen Diskurs zurückholen? Was ist Ihr Rezept?

Das Allererste ist: Mit den Menschen tatsächlich reden. Sie ernst nehmen. Das geschieht gerade in den östlichen Bundesländern oft überhaupt nicht. Viele Politiker der etablierten Parteien lassen sich dort überhaupt nicht mehr blicken. Es gibt eine aktuelle Studie der Otto Brenner Stiftung über die Entwicklung der AfD und ihrer Wählerinnen und Wähler in den zehn Jahren ihres Bestehens. Noch bei der Bundestagswahl 2013 entsprach die Schulbildung der AfD-Wählenden genau dem Durchschnitt der Bevölkerung. 2021 besaßen nur noch 30 Prozent der AfD-Wählenden Abitur oder Fachschulreife, während es im Durchschnitt der Wählenden aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien 54 Prozent waren.

Das heißt: Die AfD erzielt ihre Erfolge immer mehr bei Menschen, die nicht so gut gebildet, nicht so gut qualifiziert sind. Auch nicht so gut informiert sind. Wie können wir denn gerade diese Menschen erreichen?

Bei all den politischen Umbrüchen, die jetzt anstehen in der Gesellschaft, müssen die Politiker auch die negativen Faktoren, die negativen Auswirkungen dieser Veränderungen beim Namen nennen. Auch das geschieht oft nicht. Weder bei der Digitalisierung, noch beim ökologischen Umbau der Wirtschaft. Es wird alles schöngeredet.

Wie sind denn die tatsächlichen Zustände in der Wirtschaft?

Schauen wir auf die Tarifverträge. Die Tarifautonomie ist im Grundgesetz verankert als ein Recht, frei von staatlichen Eingriffen Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, über Arbeitsentgelt und Arbeitszeit abzuschließen. Doch tatsächlich sind Tarifverträge und Tarifbindung sowohl im Osten als auch im Westen rückläufig und zersplittert. Für 48 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland gab es 2022 keinen Tarifvertrag. In den östlichen Bundesländern waren es sogar 55 Prozent.

Wie steht es denn um die ethische Verantwortung in der Politik heute? Wie nehmen Sie das als Sozialethiker bei der gegenwärtigen Bundesregierung wahr?

Ich will Ihnen da mit einem konkreten Beispiel antworten. Bundeskanzler Scholz hat Westafrika besucht, insbesondere den Senegal. Da ging es aber keineswegs um die Lage der armen Menschen dort. Sondern der wahre Grund dieses Besuches waren die enormen Gasreserven, über die zum Beispiel der Senegal verfügt. Es geht darum, einen Gewinn für Europa zu erzielen, weniger darum, den Fortschritt jener Länder zur eigenen Entwicklung zu fördern. Das ist doch nichts anderes als eine Fortsetzung der Ausbeutung dieser Länder, die schon seit der Kolonialzeit andauert.

Podiumsdiskussion

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Bei der Veranstaltung „Wie die Reichen die Demokratie zerstören“ sitzt Hengsbach auf dem Podium, gemeinsam mit Michael Hartmann, Soziologe und Elitenforscher, und Janine Wissler, Bundesvorsitzende der Linken. Das Gespräch moderiert der Autor Claus-Jürgen Göpfert.

Termin: Donnerstag, 28. September 2023, ab 19 Uhr im Haus am Dom, Frankfurt, Domplatz 3. Der Eintritt ist frei. jg

Das steht im ziemlichen Widerspruch zu den ethischen Leitbildern, die der Westen oft verkündet.

Diese Leitbilder sind Täuschungen. Denken Sie an das Leitbild von der großen transatlantischen Freundschaft Westeuropas mit den USA. In Wahrheit folgen die USA ihren eigenen Interessen, insbesondere ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen. Der frühere Präsident Donald Trump hat das offen ausgesprochen. Heute wird das wieder eher bemäntelt. Aber man sollte auf das schauen, was die USA tatsächlich tun. Derzeit bauen sie massiv eine neue politische Allianz in Asien und im Südpazifik auf, um ein politisches Gegengewicht zu China zu schaffen.

Was halten Sie von dem Begriff der „Zeitenwende“, den Bundeskanzler Scholz 2022 verkündet hat?

Offiziell bezieht sich die „Zeitenwende“ auf die Reaktion Deutschlands auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch es scheint mir zweifelhaft, ob damit erschöpfend beschrieben wird, was tatsächlich geschieht. Es gibt eine fast hektische globale Aktivität westlicher Politiker, Reisen, wechselseitige Botschaften, Gipfelkonferenzen. Der Westen und die Nato bauen an neuen Allianzen, in Lateinamerika, Afrika, im Südpazifik. Die Nato entwickelt ein neues strategisches Konzept. Es ist auf 360 Grad orientiert: Es nimmt China in den Blick, die Region Indo-Pazifik und den globalen Süden. (Interview: Claus-Jürgen Göpfert)

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Author: Stephen Hicks

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